Datum:
05.07.2002
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Zeitung:
Tagesspiegel
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Titel:
Revolutionäre Rentnerin
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Revolutionäre Rentnerin
Im RZ-Prozess präsentierten Verteidiger eine Überraschungszeugin /
Geständnis nach 15 Jahren
Sie ist ein Trumpf gegen den Kronzeugen. Ein bisher geheim gehaltener.
Mit dunkler Brille kam die 63-jährige frühere Beamtin
gestern durch eine Hintertür in den Gerichtssaal. Wenig später
die Überraschung im Prozess gegen Rudolf Schindler und vier
weitere mutmaßliche Mitglieder der "Revolutionären
Zellen" (RZ): Fast sechzehn Jahre nach einem Terroranschlag
auf einen hohen Berliner Beamten bezichtigte sich die gelernte Sozialarbeiterin
und jetzige Rentnerin der Schüsse. Sie widersprach damit der
Bundesanwaltschaft und dem Kronzeugen.
Tarek Mousli hatte Schindler als Schützen benannt. "Ich
habe vorher von Rudi die Pistole übernommen und auf Herrn Hollenberg
geschossen", gestand die Zeugin. Das war 1986. Harald Hollenberg
war damals Leiter der Berliner Ausländerbehörde. Zwei
Schüsse trafen ihn in die Beine. Hollenberg habe oft "bürokratisch"
entschieden, sagte die Zeugin zu ihrem Motiv. Sie habe die Flüchtlingspolitik
als unmenschlich angesehen. Vor dem Attentat sei sie mit Schindler
nach Frankreich gefahren und habe in einem Bunker das Schießen
geübt. "Ich wollte keine schweren Verletzungen. Das war
nicht unsere Absicht." Damit bestätigte die Frau im Wesentlichen
die Aussage von Schindler. Dem 59-Jährigen wird in dem seit
mehr als einem Jahr dauernden Prozess Rädelsführerschaft
in einer terroristischen Vereinigung vorgeworfen.
Mitangeklagte und ebenfalls durch Aussagen des Kronzeugen Mousli
belastet ist seine Ehefrau Sabine Eckle. Nach Angaben des Ex-Terroristen
Mousli war Sabine Eckle an dem Anschlag auf Hollenberg beteiligt.
Die Zeugin aber verneinte das. Die Frau, die in den 70er Jahren
Beamtin in einer Senatsverwaltung war, sagte, Mousli habe sie nach
dem Attentat "umarmt und beglückwünscht".
In dem Prozess geht es um vier Anschläge zwischen 1986 und
1991. Außerdem verhandelt der 1. Strafsenat ein Knieschuss-Attentat
auf einen früheren Bundesrichter sowie Sprengstoffanschläge
auf die Siegessäule und auf die Zentrale Sozialhilfestelle
für Asylbewerber. Im Fall des Richters hatte Schindler zugegeben,
der Schütze gewesen zu sein. Er hatte den Kronzeugen Mousli,
der nach seinen umfassenden Angaben über die RZ zu einer Bewährungsstrafe
verurteilt wurde und unter Personenschutz steht, als "Lügner"
bezeichnet.
Welche Konsequenzen die Selbstbezichtigung der Zeugin haben wird,
ist noch nicht abzusehen. Für die Schüsse kann sie nicht
mehr belangt werden. Sie waren eine Körperverletzung, die inzwischen
verjährt ist. Dennoch riskiert die Frau, die im Zusammenhang
mit Aktivitäten in der "Roten Zora" bereits als Beschuldigte
gilt, weitere Ermittlungen wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen
Vereinigung. Als Zeugin beschränkte sie sich peinlich genau
darauf, nur zum Fall Hollenberg Angaben zu machen.
Kerstin Gehrke
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